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Bürgerliches Leben in Steyr

Luise Reis1 kam am 19. Februar 1883 in Steyr als Tochter von Gottfried Reis (Jahrgang 1850) und Rosa, geb. Pollatschek (Jahrgang 1857), auf die Welt. Die Mutter Rosa stammte aus dem tschechischen Tutschap, der Vater Gottfried kam aus Štiřín bei Prag.2

1880 gelangte das Ehepaar Gottfried und Rosa Reis in den Besitz des Hauses Wieserfeldplatz 10, das zuvor Rosas Vater Eduard Pollatschek gehört hatte, der hier Branntweinproduzent und -händler war. Gottfried führte das Geschäft weiter, verkaufte das Haus jedoch 1888. Er erzeugte Branntwein, handelte und betrieb den Kleinverschleiß in unverschlossenen Gefäßen und mit Rohprodukten auch am Stadtplatz 22, später 26. Nebenan (Nr. 28) befand sich das Einkehrgasthaus „Zum weißen Lamm“, wo Gottfried Reis das Gast- und Schankgewerbe besaß. Er veräußerte das Haus 1901 an seine Pächter.
Gottfried Reis war ab 1894 einige Jahre Vorsteher der „Israelitischen Kultusgemeinde“ und von 1901-1911 auch im k.k. Stadtschulrat vertreten. 1894 erwarb er das Gebäude in der Gleinkergasse 18, das nach seinem Tod seine Tochter Helene 1931 erbte.3

Luise hatte fünf Schwestern, die in Steyr auf die Welt kamen: Josefine 1877, Hedwig 1879, Friederike 1881, Helene 1886 und Pauline (Geburtsdatum unbekannt). Von Pauline (auch Paula oder Pauli genannt) wissen wir, dass sie sich 1918 mit dem Arzt Dr. Benno Schuller vermählt und mit ihm von 1921 bis 1927 in den USA gelebt hatte, bevor das Paar 1928 nach Steyr zurückkehrte. Ihre Tochter Rosa legte die Reifeprüfung 1938 ab und ging von Steyr nach Wien, um dort zu studieren.4
Luise Reis heiratete Michael Kohn, der im Jahre 1913 das Haus in der Schlüsselhofgasse 9 erwarb. Nach dessen Tod erbte Luise das Haus im Oktober 1926.5 Ihr Schwager, der oben erwähnte Dr. Benno Schuller, hatte darin nach seiner Rückkehr aus den USA 1928 Räume gemietet, um dort seine Privatpraxis zu betreiben.6

Der wirtschaftliche Erfolg

Josefine Reis, die älteste Schwester von Luise, verlobte sich 1897 mit Alois Spitz, Sohn des bekannten Gründers der erfolgreichen Firma „S. Spitz, Großbrennerei, Rum- und Likörfabrik“, den sie wenig später heiratete. Kurz nach der Jahrhundertwende vermählte sich Luises Schwester Friederike mit Heinrich Spitz, dem Bruder von Alois Spitz, also ihrem Schwager. Heinrich erwarb den „Weingroßhandel Andreas Ferihumer“, dessen Firmenname auf seinen ursprünglichen Gründer, den ehemaligen Bürgermeister von Urfahr, Andreas Ferihumer, zurückgeht.

Nach dem Tod von Heinrich Spitz im Jahre 1933 führten die Witwe Friederike und ihre Söhne Eduard und Alexander die Firma weiter. Die beiden Brüder hatten einen großen Freundeskreis und waren gesellschaftlich sehr aktiv. Alexander war auch einige Jahre im Linzer Kultusgemeindevorstand tätig.7

Nach dem „Anschluss“ die Katastrophe

Doch als im März 1938 die Nationalsozialisten in Österreich einmarschierten, waren Friederike und ihre beiden Söhne Alexander und Eduard der öffentlichen Entrechtung, der judenfeindlichen Propaganda und den persönlichen Demütigungen nicht mehr gewachsen und verübten wenige Tage nach dem „Anschluss“, am 19. März 1938, Suizid durch Erhängen in ihrer Wohnung an der Hauptstraße in Urfahr.

Angedrohte Verhaftungen, öffentliches Brandmarken von jüdischen Geschäften und Beschlagnahmen von jüdischem Eigentum waren damals an der Tagesordnung.

Friederike Spitz und ihre Söhne waren nicht die einzigen, die sich das Leben nahmen, denn in Linz kam es zu auffällig vielen Suiziden von jüdischen Bürger:innen in den ersten Märzwochen 1938.

In der Familie Reis kam es noch zu weiteren Verzweiflungstaten: In Steyr lebten Helene Reis und ihre Schwestern Luise Kohn und Hedwig Mayer im Jahre 1938 gemeinsam im Haus in der Gleinkergasse 18. Sie mussten den Suizid ihrer Schwester und ihrer Neffen im März 1938 verkraften. Durch den „Anschluss“ und der damit verbundenen Verfolgung, die auch auf die widerrechtliche Aneignung ihres Vermögens zielte, waren die Schwestern in Bedrängnis geraten. Sie gaben den Behörden an, dass sie nicht mehr im Besitz ihrer Sparbücher seien.

Luise Kohn erklärte Anfang Dezember 1938, dass sie ihr Sparbuch verloren habe, Mitte des Monats gestand sie, drei Sparbücher verbrannt zu haben, da sie sich im März das Leben nehmen wollte.8

Am 14.12.1938 gaben die Schwestern Luise Kohn und Hedwig Mayer zu Protokoll, dass sie Dokumente, Bilder und Sparbücher in ihrer Wohnung verbrannt hätten, einige Monate später, im Mai 1939 unterzeichneten sie ein Protokoll, in dem zu lesen war, dass sie deshalb die Einlagebücher, Schriften und viele Bücher „in geistiger Verwirrung“ vernichtet hätten, da sie „ […] anläßlich des Selbstmordes dreier Familien-Angehöriger die Wohnung räumen mussten.“9

Bei Helene Reis führte die Gestapo Linz nach dem „Anschluss“ 1938 eine Hausdurchsuchung durch und beschlagnahmte Sparbücher, Aktien und Bargeld. Ihr Vermögen wurde zugunsten des Landes Österreich eingezogen, Haus und Geschäft schließlich von Theodor Purkhart „arisiert“.10

In einem Fragebogen der Wiener Fürsorgezentrale der Israelitischen Kultusgemeinde gab Helene Reis an, dass sie mit dem Ertrag aus dem eventuellen Verkauf von Haus und Geschäft in der Gleinkergasse 18 die Mittel hätte, gemeinsam mit ihren Schwestern Hedwig und Luise nach Palästina auszuwandern und sie dort in der Kinderfürsorge arbeiten wolle.11

Nach dem „Anschluss“ im März 1938 wurde auch das Haus der Luise Kohn in der Schlüsselhofgasse 9 „arisiert“, Karl und Marie Nemetschek erwarben es im Juli 1938. Im Jahre 1949 wurde es an Luises Schwester Josefine Spitz und an ihre Nichte Rosa Tropano, zurückgestellt, bevor es 1953 vom Ehepaar Nemetschek wieder zurückgekauft wurde.12

Die drei Schwestern Luise Kohn, Hedwig Mayer und Helene Reis übersiedelten 1939 nach Wien. In den historischen Meldeunterlagen des Wiener Stadt- und Landesarchivs ist vermerkt, dass sie zuletzt gemeinsam vom 22. Dezember 1941 bis 15. Jänner 1942 an der Adresse Eßlinggasse 7 im 1. Wiener Bezirk lebten.
Als die Deportation vor der Tür stand, nahmen sich die drei Schwestern am 15. Jänner 1942 in ihrer Wohnung das Leben. Luise Kohn und Helene Reis starben am selben Tag, Hedwig Mayer einen Tag danach.13

Margarete Uprimny berichtete vom Begräbnis in ihrem letzten Brief vom 25.1.1942 an eine befreundete Steyrerin:

Und gestern haben wir, es ist so entsetzlich davon zu schreiben, Helene Reis, Frau Kohn und die dritte Schwester, Frau Mayer, begraben. Sie haben es also ausgeführt, was sie schon immer tun wollten. Auch Frau Dr. Schuller (Pauli), die in Amerika war, lebt nicht mehr. Mir sträubt sich die Feder, wenn ich Ihnen schildern soll, wie traurig das Begräbnis war.14

Seit Mai 2025 erinnert ein „Stolperstein“ an Luise Kohn, geb. Reis, vor ihrem ehemaligen Wohnhaus, Schlüsselhofgasse 9 in Steyr.

1 Beim Namen der Familie Reis findet man unterschiedliche Schreibweisen, auch Reiß oder Reiss.

2 Vgl. Wagner, Verena: Friederike Spitz, geborene Reis. In: OÖ Landesarchiv (Hg.): Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs, Bd. 26 (Linz 2024), S. 197-230, hier: S. 197

3 Vgl. Neuhauser-Pfeiffer, Waltraud: Das Schicksal der Helene Reis. In: URL: https://www.steyrerstolpersteine.at/das-schicksal-der-helene-reis/

4 Vgl. Wagner: Friederike Spitz S. 198

5 Vgl. Neuhauser-Pfeiffer – Ramsmaier: Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr (Grünbach 1998) S. 129

6 Vgl. Wagner: Friederike Spitz S. 198

7 Ebd. S. 197-211

8 Vgl. Wagner: Friederike Spitz S. 211-216

9 IKGL, Arisierung VA, Sch. 2: Aktenvermerk 3.5.1939. Zit. in: Wagner: Friederike Spitz S. 214 f.

10 Vgl. Neuhauser-Pfeiffer – Ramsmaier: Vergessene Spuren S. 134f.; Ellmauer, Daniela – John, Michael – Thumser, Regina: „Arisierungen“, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in Oberösterreich (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 17/1, Wien – München 2004) S. 490

11 IKGW, Fragebogen IKG-Fürsorge-Bestand Jerusalem A/W 2590, 31271. Zit. in: Wagner: Friederike Spitz S. 214

12 Vgl. Neuhauser-Pfeiffer – Ramsmaier, Karl: Vergessene Spuren S. 129

13 Schreiben des Wiener Stadt- und Landesarchivs (historische Meldeunterlagen) vom 8.2.1023 an die Autorin:

Daten von Luise Sara Kohn, geborene Reis (geb. 19.2.1883) und Daten von Hedwig Mayer, geborene Reis, (geb. 12.9.1879)

14 Zit. in: Neuhauser-Pfeiffer – Ramsmaier: Vergessene Spuren S. 176 f.

Waltraud Neuhauser-Pfeiffer

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