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Die Familie Fried

Aus der Ehe von Anna und Samuel Fried, die seit 1898 in ihrem Haus am Wieserfeldplatz 27 wohnten und 1938 nicht mehr am Leben waren, gingen acht Kinder hervor. Während Theresa, Siegfried, Hugo, Ernst und Maria (verehelichte Sommer), die großteils mit ihren Familien in Linz gelebt hatten, emigrieren konnten, wurden die Geschwister Georg Fried und Irma Herzog (geborene Fried) ermordet. Irma, die bereits 1925 nach Linz übersiedelt war, wurde 1942 von Wien nach Theresienstadt deportiert und von dort 1944 nach Auschwitz überstellt. Georg, genannt „Schurl“, der 1930 nach Wien und 1935 nach Gmunden verzogen war, emigrierte mit Frau Alice, genannt „Lisl“, und Sohn Robert 1939 nach Belgien. Georg wurde 1940 in südfranzösischen Lagern interniert und 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er zwei Tage nach seiner Ankunft, am 11. September 1942, ermordet wurde. Seine Frau Alice und ihr Sohn Robert konnten von belgischen Familien versteckt werden und emigrierten später in die USA. Das Schicksal des taubstummen Leopold, genannt „Poldl“, Fried, der Bruder von Anna Fried, ist nicht bekannt, er wurde vermutlich schon 1938 ermordet.1

Ida Popper (geb. 1882), eine weitere Tochter von Anna und Samuel Fried und ihr Ehemann Otto (Reinhardt) Popper (geb. 1871), ein bekannter Schriftsteller, waren schon 1936 nach Belgien emigriert, wurden von dort 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Vordere Reihe: 1. von links: Irma Herzog (geb. Fried), 3. von links: Samuel Fried, vor ihm: Helene Seinfeld, geb. Popper, als Fünfjährige, 3. von rechts: Anna Fried, 2. von rechts: Ida Popper (geb. Fried)
Hintere Reihe: 4. von links: Otto Popper, 5. von links: Georg Fried; Bild aufgenommen um 1929 (Privatbesitz)

Helene „Hely“ Seinfeld, geborene Popper (1924-2005)

Die Tochter von Otto und Ida Popper, Helene, genannt „Hely“, verbrachte eine unbeschwerte Kindheit in Steyr.

Helys Vater, Otto Popper, war nicht bereit, seinem Vater, dem Baron Popper, einem begüterten Geschäftsmann und Fabriksbesitzer aus Žamberk (deutsch: Senftenberg) nachzufolgen, sondern fühlte sich zum Künstler berufen.
Otto Popper schrieb Theaterstücke und kam mit einer Wanderbühne nach Steyr. Hier lernte er Ida Fried kennen und lieben. Sie zogen in den 1910er-Jahren nach Berlin, führten ein Künstlerleben, kannten Max Reinhardt und Ralph Benatzky, zählten auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ihren Freunden. Otto Popper schrieb patriotische Gedichte und Theaterstücke. Sein bekanntestes politisches Theaterstück „Das Warenhausfräulein“ wurde oft und gerne aufgeführt. Doch 1919 wurde Otto Popper mit seiner Familie wegen seiner politischen Kontakte zu Kommunisten aus Deutschland ausgewiesen. Das war auch der Grund, warum sie nach Steyr zur Familie von Helys Mutter Ida zogen.

Theaterplakat „Die Heimatlosen“ von Otto Popper, 1912 (Stadtmuseum Steyr, Sammlung Theaterplakate)

Als Hely 1924 geboren wurde, war ihr Bruder Wilhelm 19 Jahre, ihr Bruder Alfred gar 21 Jahre älter als sie. Auf dem Wieserfeldplatz in Steyr erlebte Hely eine glückliche Kindheit, frei und unbekümmert zog sie in den Straßen umher. Der Vater war humorvoll, schrieb Komödien und verkaufte Zeitungen. Doch die politischen Spannungen nahmen zu. Die schlechte Wirtschaftslage und der Verlust der Arbeit in den Steyr-Werken veranlassten Helys Brüder schon 1928, nach Belgien auszuwandern.

Belgien, ein unsicheres Exilland

Otto Popper ahnte voraus, dass die Polarisierungen zwischen den Parteien zu einer bewaffneten Konfrontation führen würden und sandte deshalb seine fast zehnjährige Tochter vorsichtshalber zu seinen Söhnen am 9. Februar 1934 nach Belgien. Die Eltern versprachen, schnell nachzukommen doch erst zwei Jahre später war es soweit.

Die Brüder hatten in der Zwischenzeit in Arlon einen Laden mit dem Namen „Popper Frères“ für Kleidung und Galanteriewaren eröffnet. Hely lernte schnell Französisch, lebte sich ein und war den Eltern schon entfremdet, als sie 1936 ankamen. Sie wohnte bei ihren Brüdern und fühlte sich mehr als deren Kind als das ihrer Eltern. Ab 1939 gingen immer mehr Verwandte nach Belgien in das Exil.

Als im Mai 1940 deutsche Truppen auch in Belgien einmarschierten, begann die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.

„Popper Frères“ wurde mit einem Davidstern gebrandmarkt. Hely versuchte, mit ihrer Tante Liesl und ihrem Cousin Robert über Frankreich nach England zu gelangen, verlor jedoch im Chaos der Flüchtlingszüge ihre Verwandten und wurde in Arras von den Deutschen eingeholt und zurück nach Arlon gebracht. Die Brüder waren bereits weg. Nun musste sich Hely um ihre Eltern kümmern. Sie eröffnete das Geschäft wieder, in dem sich sogar deutsche Soldaten mit dem Nötigsten versorgten – trotz des Verbots, bei Juden zu einzukaufen. Einer von ihnen war der Gefreite Gerhard Wilke, der hin und wieder Brot oder Konservendosen vorbeibrachte. Eines Tages warnte er die Poppers vor einer Vergeltungsaktion der Nazis, weil Partisanen zwei deutsche Soldaten in den Ardennen ermordet hatten.

Wilke gelang es, Hely mit einem falschen Personalausweis ohne Judenvermerk als sogenannte „Volksdeutsche“ auszugeben. Damit war es möglich, sie zur Arbeitsverpflichtung auf dem Bauernhof bei seiner Frau Gustel in Grippel, seinem Heimatort in der Lüneburger Heide, unterzubringen. Im Jänner 1941 kam Hely dort an.

Verborgen und aufgespürt

Gustel Wilke nahm Hely freundlich auf. Sie half tüchtig bei der schweren Arbeit auf dem Bauernhof und in der angeschlossenen Bäckerei mit. Eines Tages erklärte Frau Wilke Hely, dass sie nicht mehr bleiben könne. Ein Schock für Hely! Erst nach dem Krieg erfuhr sie, dass bis zum Bürgermeister durchgesickert war, am Hof der Wilkes sei eine kleine Jüdin versteckt und sie müsse umgehend weg, sonst drohten der Familie schwerste Sanktionen.

Gustel Wilke hatte ihr schon eine andere Arbeitsstelle vermittelt. Als Küchengehilfin sollte sie im nahegelegenen Jagdschloss „Göhrde“ von Hermann Göring arbeiten. Die Täuschung gelang, auch als sie ihm eines Tages persönlich gegenüberstand.

Doch nach einem Jahr, im Sommer 1943, bekam sie Urlaub und so trat sie die Heimfahrt nach Arlon an. Sie traf die Eltern nicht mehr an. Auch sie selbst werde gesucht, erfuhr sie von den Nachbarn.

Auf der Kommandantur in Brüssel erhielt sie mit dem Urlaubsschein von Göring eine neue Arbeitsstelle bei „Dynamit Nobel“ in der Umgebung von Bonn. Sie arbeitete als Küchenhilfe und als Dolmetscherin. Doch dann kamen Zwangsarbeiter aus der Gegend von Arlon an und die Gefahr, als Jüdin erkannt zu werden, wurde immer größer. Darum ließ sie sich zu „Siemens“ nach Berlin versetzen. Warum Berlin? Gut möglich, dass Hely dachte, in der Großstadt ihre Spuren leichter verwischen zu können.

Doch eines Tages erhielt sie eine schriftliche Vorladung der Gestapo. Vom Gefängnis Moabit wurde sie von SS-Männern in das KZ Groß-Rosen bei Breslau geführt. Der 55. Ost-Transport vom 12. Juli 1944 brachte sie in einem Viehwaggon schließlich nach Auschwitz.

Auschwitz

Schon die Ankunft ließ erahnen, wo sie gelandet war:

Der Waggon wird geöffnet, SS-Männer treiben uns mit Peitschen an: ‚Schnell, schnell heraus, Saujuden. Alle ausziehen!‘ Wir müssen uns nackt ausziehen, auch wir Frauen und Mädchen, vor den SS-Männern. Splitternackt stehen wir da. Nun folgt die Selektion: rechts – links – rechts – links. Was bedeutet das? Mein schöner schwarzer Lockenkopf, diese Pracht von Haaren, wird abrasiert, die Nummer auf den Arm tätowiert. Wir bekommen Kleider. Das geht alles so schnell, man weiß nicht, wie einem geschieht. Da vergesse ich vor lauter Angst, mir Unterwäsche zu nehmen.

Dann werden wir in die Baracken geführt. Fünf Frauen oder Mädchen auf einer Pritsche. Alle möglichen Nationalitäten sind hier. Wir liegen auf den Pritschen, plötzlich wird gepfiffen: Raus! Wir bekommen Schuhe, eigentlich Holzpantoffel. Die liegen wild durcheinander, alle Größen auf einem Haufen! Einer hat zwei linke, der andere zu große, der nächste zu kleine. Was man halt erwischt. Wir beginnen zu tauschen. Plötzlich Appell! Wir werden gezählt, dann marsch zur Arbeit!. Keiner kann mit diesen blöden Schuhen, die nicht passen, marschieren. Zur Strafe müssen wir auf Kieselsteinen knien, die Kapelle spielt dazu. Nach der Strafe marschieren wir weiter, rechts, links, rechts, links, jeder bekommt eine Schaufel, wir marschieren aus dem Lager hinaus. Graben, graben, viele fallen vor Müdigkeit und Erschöpfung um. Die Schuhe drücken. Es wird gepfiffen, Schaufel auf die Schulter und marsch zurück ins Lager. Wir versuchen links – rechts, links – rechts zu marschieren. Nur nicht mehr auf dem Kiesel knien! Zurück ins Lager, Essenausgabe: ein Stück Kommissbrot, ein Klecks Margarine. Ab in die Baracke! Jetzt fangen alle zu weinen an, jeder schreit nach seinem Vater, seiner Mutter, seiner Großmutter, seinen Angehörigen. Was für ein Gejammer und Geheule, nicht zum Aushalten. Irgendwann schlafen wir ein. Mitten in der Nacht, um drei oder vier Uhr früh: wieder Appell, Zählung und Einteilung zur Arbeit. Langsam gewöhnt man sich an diese Art von Leben.“2

Hely resümiert Jahre später, wie man unter diesen Bedingungen überleben kann:

Du bist ja dort kein Mensch mehr, sondern ein Tier. Du versuchst zu überleben. Wenn es etwas zu stehlen gibt, dann stiehlst du es einfach. Du findest ein Stück Brot, du nimmst es und isst es. Es ist dir egal, ob der, dem du es wegnimmst, verhungern könnte. Der Selbsterhaltungstrieb ist so groß. Man macht manchmal Sachen, da kann man gar nicht glauben, dass man so etwas macht.3

Hely überstand zwei Selektionen durch Dr. Mengele. Bei der dritten und letzten war sie schon völlig entkräftet und voller Krätze. Doch mit dem Mut der Verzweiflung sagte sie sich:

Ich muss durchkommen. Und wenn ich der einzige Mensch bin, der später erzählen kann, was sich hier abspielt. Ich muss das überleben.“4

Und Hely überlebte, auch den Todesmarsch im Jänner 1945 in das KZ Ravensbrück.

Befreiung und Weiterleben

Hely war 21 Jahre alt und wog 33 Kilogramm, als sie am 23. April 1945 befreit wurde. Ein Rot-Kreuz-Transport brachte sie, die an Typhus und Paratyphus erkrankt war, nach Dänemark und anschließend nach Malmö in Schweden.

Noch im Krankenhaus, wo sie langsam genas, bedankte sie sich in einem Schreiben an die schwedische Königin beim dänischen und schwedischen Volk dafür, dass sie wieder als Mensch wahrgenommen und behandelt worden war. Dieser in Tageszeitungen veröffentlichte Brief löste viele Reaktionen aus und Hely wurde mit Geschenken aus dem ganzen Land überhäuft.

Einige Zeit blieb sie bei einer schwedischen Familie. Doch dann zog es sie zurück nach Arlon. Dort angekommen, erfuhr sie vom Überleben ihrer Brüder, aber auch von der Ermordung ihrer Eltern in Auschwitz 1943.

Hely blieb noch einige Zeit in Brüssel, arbeitete für eine Flüchtlingsorganisation, übersetzte für den britischen Geheimdienst und plante, nach Palästina auszuwandern.

In der „Fregattenbar“ in Brüssel lernte sie Philip Seinfeld kennen. Die Herkunft, die Sprache und das gemeinsame Schicksal verbanden sie. Philip stammte aus Wien, war 1938 über die Niederlande nach Palästina geflüchtet, wo er in einem Kibbuz arbeitete. Während des Krieges meldete er sich zur „Jewish Brigade“ der British Army.

Auch Philip erfuhr erst nach dem Krieg in Belgien, dass seine Eltern, sein Bruder Hermann, seine Schwester Rosi und seine Lieblingsschwester Regi mit ihren beiden Babys und ihrem Ehemann ermordet worden waren.

Palästina, ein schwerer Neuanfang

Philip riet Hely davon ab, nach Palästina zu emigrieren. Er wollte sie heiraten, doch er war bereits eine Scheinehe mit einer Tschechin eingegangen. Hely reiste ihrem Philip nach Palästina nach.

Ein Rabbiner löste die erste Ehe auf und so konnten Hely und Philip am 30. März 1946 heiraten.

Hely dachte, dass sie keine Kinder bekommen könnte, weil der KZ-Arzt Mengele an ihr Experimente für Massensterilisationen durchgeführt hatte. Zum Glück irrte Hely, denn sie gebar 1947 Sohn Arie und 1949 Tochter Nurit.

In Israel schrieb sie Artikel für eine Einwandererzeitung und arbeitete später als Lehrerin. Trotz der politisch schwierigen Lage fühlte sie sich in Israel zu Hause.
„In Israel fühle ich mich zu Hause. Wie sehr ich an Israel gebunden bin, spüre ich am meisten, wenn ich weg bin.“5

Doch immer wieder zog es sie auch nach Steyr, das sie mit ihrem Ehemann Philip besuchte.

1. und 2. von links: Philip und Helene Seinfeld anlässlich des Besuchs ehemaliger jüdischer Bürger:innen in Steyr im November 1993 (Foto Kranzmayr)

Steyr ist etwas Besonderes für mich, die Erinnerungen an meine Eltern und Großeltern stammen von dieser Stadt. Obwohl ich keine Verwandten mehr hier habe, komme ich gerne nach Steyr. Ich gehe auf den Wieserfeldplatz und dann finde ich wieder Ruhe.“6

Hely Seinfeld starb am 5. Mai 2005.

Seit dem 24. Mai 2023 wird mit Stolpersteinen vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familien Fried/Popper am Wieserfeldplatz 27 an Ida und Otto Popper, ermordet 1943 in Auschwitz, erinnert.
@Waltraud Neuhauser-Pfeiffer

Literatur:

Der vorliegende Text basiert im Wesentlichen auf der Publikation:

Neuhauser-Pfeiffer, Waltraud: Dazugehörig? Jüdisches Leben in Steyr von den Anfängen bis in die Gegenwart (Steyr, Verlag Ennsthaler 2021)

1 Fried, John H.: Why not me? Unveröffentlichte Memoiren (1999)

2 Neuhauser, Waltraud – Neuhauser, Georg: Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt (Grünbach 1998) 23 f.

3 Ebd., 24 f.

4 Ebd., 26

5 Ebd., 33

6 Ebd., 32 f.

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