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Einige Tage nach dem „Anschluss“ im März 1938 war Walter Garde noch Oberstufenschüler im Steyrer Realgymnasium. Vor seiner Bank hatte ein Mitschüler ein Plakat angebracht: „Hier sitzt ein Jud!“

Die Professoren reagierten an jenem Märztag beim Betreten der Klasse unterschiedlich darauf – einer verlegen, ein anderer höhnisch grinsend. Erst der Klassenvorstand forderte in der vierten Stunde die Schüler zum Entfernen des Plakates auf. Damals war Franz Karl Stanzel fünfzehn Jahre alt und Mitschüler von Walter Garde.

Bis heute ist es dem emeritierten Grazer Universitätsprofessor (99) unverständlich, warum die Klassenkameraden nicht über den Vorfall diskutierten und noch unverständlicher erscheint es ihm, dass die bald darauf folgende Abwesenheit seines jüdischen Mitschülers von allen kommentarlos zur Kenntnis genommen wurde. Dabei war Walter Garde ein begabter und beliebter Schüler, der laut Stanzel mit seinen Klassenkameraden auch gerne seine Jausenbrote teilte.1

Jüdisches Leben in Steyr

Walters Vater, Jakob Garde, betrieb mit seiner Frau Marie eine Krämerei und ein Damenkonfektionsgeschäft in der Enge Gasse 18, im 2. Stockwerk, wo die fünfköpfige Familie auch wohnte. Das Geschäft war besonders bei der bäuerlichen Bevölkerung beliebt. Außerdem übte Marie Garde das Gewerbe einer Modistin aus. Das Ehepaar Garde, aus Krakau in Polen stammend, hatte um 1918 das Damenmodegeschäft von Adele Sachs erworben, aufgebaut und renoviert. Seit Beginn der 1920er Jahre führte die Israelitische Kultusgemeinde Steyr Jakob Garde als Mitglied in ihren Protokollen. Um 1937 traten die Gardes zum katholischen Glauben über.

Briefkopf Jakob Garde (©Oberösterreichisches Landesarchiv)

Im Sommer 1938 kam es zu Übergriffen auf jüdische Geschäfte. Franz Karl Stanzel erinnert sich, dass auch das Geschäft der Gardes mit antisemitischen Parolen wie „Kauft nicht beim Juden“ beschmiert worden war. Jakob Garde wurde im Sommer 1938 mit anderen jüdischen Bürgern verhaftet.3

Das Ehepaar musste sein gesamtes Vermögen an die NS-Behörden melden und detaillierte Listen erstellen. Jakob und Marie Garde ersuchten im August 1938 die Gauleitung „Oberdonau“ um Freigabe von 1000 Reichsmark aus ihrem Vermögen, da sie über kein Geld mehr verfügten. Sie sollten das Land bis zum 25. August 1938 verlassen, übersiedelten zunächst nach Wien und schließlich am 2. September 1938 nach Krakau. Ein kommissarischer Verwalter wurde bestellt, der mit der Liquidierung des Steyrer Geschäftes beauftragt war. Er ließ das Vermögen bewerten, die lagernde Konfektionsware abverkaufen und den verbliebenen Warenbestand um 20 % des Wertes veräußern. Erst Ende 1943 wurde das Restvermögen des Ehepaares Jakob und Marie Garde nach großem bürokratischen Aufwand zugunsten des „Deutschen Reiches“ eingezogen.4 Hinter der peniblen Scheinrechtmäßigkeit verbarg sich die Ungeheuerlichkeit der Enteignung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung.

Propaganda und Hetze

Die nationalsozialistische Tageszeitung Steyrer Volksstimme, die Nachfolgerin der Steyrer Zeitung, berichtete schon am 2. September 1938, dass die meisten zurzeit des „Anschlusses“ in Steyr wohnhaften Juden und Jüdinnen bereits ausgewandert seien oder kurz davor stünden. Unter dem Titel „Der Auszug Israels aus der alten Eisenstadt“ ist zu lesen:

Es dürfte der Tag nicht mehr allzu ferne sein, an welchem alle Söhne Israels, einerlei ob getauft oder ungetauft, restlos aus unserer Stadt verschwunden sein werden. […]; wo sie hin verschwinden ist vollkommen belanglos, die Hauptsache ist, dass die alte Eisenstadt bald vollkommen judenrein sein wird […]5

Fußnoten:


1 Stanzel, Franz Karl (Gastkommentar 10.3.2008): März 1938: An den nächsten Tagen fiel die Schule aus… URL: https://www.diepresse.com/368870/marz-1938-an-den-nachsten-tagen-fiel-die-schule-aus (aufgerufen am 6.4.2021)

2 Oberösterreichisches Landesarchiv, Arisierung: StRStAriFR04_320.jpg bis StRStAriFR04_0411.jpg; Finanzlandesdirektion: FiFLDBVFR06_0353.jpg bis FiFLDBVFR06_0358.jpg; Israelitische Kultusgemeinde (IKG): SoIKGFR01_1291.jpg bis SoIKGFR01_1299.jpg

3 Siehe Fußnote 1

4 Siehe Fußnote 2

5 Steyrer Volksstimme 2.9.1938, 7

Zionistische Jugendgruppe: 1. Reihe (Zweiter von links) Walter Garde; 2. Reihe (Erster von rechts): Hugo Garde (©Privatbesitz)

Vertreibung nach Krakau

In Krakau, wohin die Familie Garde emigrierte, mussten alle jüdischen Bewohner:innen ab März 1941 nach Podgórze, einem südlichen Viertel der Stadt, übersiedeln. Mit Mauer und Stacheldraht abgeriegelt und von der SS streng bewacht, waren 15.000 Menschen auf engstem Raum in diesem „Ghetto“ zusammengepfercht, bevor das Lager im März 1943 endgültig liquidiert wurde. Arbeitsfähige Juden und Jüdinnen wurden ins KZ Płaszów überstellt, die anderen – Alte, Schwache und Kinder – ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.6 In diesem Umfeld spielt auch der bekannte Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg.

Jakob Garde und die Kinder, der 22jährige Hugo, sein fast 19jähriger Bruder Walter, der Schulkamerad von Franz Karl Stanzel, und die 15jährige Schwester Renée, wurden bei einer „Ghettoräumungsaktion“ am 7. Oktober 1942 am Platz lgoda ermordet.
Diese Angaben machte die lange Zeit tot geglaubte Marie Garde zwölf Jahre nach dem Krieg, als sie mit Hilfe ihres Neffen um eine Unterstützung beim Hilfsfonds ansuchte.

Wie war das Leben der Marie Garde nach der Vertreibung mit ihrer Familie nach Krakau Anfang September 1938 verlaufen? Sie wurde am 20. November 1941 festgenommen und war bis zum 12. Juli 1942 im Gefängnis im Viertel Podgórze inhaftiert. Der Grund dafür ist unbekannt. Danach wurde sie von den Behörden in das Ghetto Krakau eingeliefert, wo auch ihr Mann und ihre Kinder bis zu deren Ermordung Anfang Oktober 1942 lebten.

Danach kam Marie Garde über das Arbeitslager und spätere Konzentrationslager Płaszów nach Auschwitz und schließlich in das Konzentrationslager Theresienstadt. Im Jahre 1945 wurde sie dort befreit.

Bis zum Dezember 1956 lebte sie vermutlich bei ihren Verwandten in Krakau und emigrierte dann nach Israel. Im März 1960 übersiedelte sie nach Frankfurt am Main, wo sie 1965 verstarb.7

Was bleibt?

Die jüdische Familie Garde wurde wie viele andere fast zur Gänze im Holocaust ausgelöscht. Die NS-Diktatur hatte Antisemitismus und Rassenwahn zum Programm gemacht. Sechs Millionen Juden und Jüdinnen und so viele andere von der NS-Ideologie als unerwünscht Gebrandmarkte wie Roma und Sinti, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Menschen mit Behinderung und Regimegegner wurden verfolgt, deportiert und ermordet.

Gedenktafel für im Holocaust ermordete jüdische SchülerInnen, BRG Steyr (©Waltraud Neuhauser-Pfeiffer)

Heute erinnert eine Gedenktafel am BRG Steyr an die Geschwister Walter, Hugo, Renée Garde und sechs weitere ermordete jüdische Schüler:innen der Schule – ein Geschichteprojekt, das 2005/2006 unter der Leitung der Geschichteprofessorin Angela Stockhammer realisiert wurde. Auch am jüdischen Friedhof sind die Namen der Familie Garde auf einer Gedenktafel zu finden.

Seit dem 24. Mai 2023 wird mit „Stolpersteinen“ vor dem Haus, Enge Gasse 18, der ehemaligen Wohn- und Arbeitsstätte der Familie Garde, an Jakob, Hugo, Walter und Renée Garde erinnert.

©Waltraud Neuhauser-Pfeiffer

Weiterführende Literatur:

Neuhauser-Pfeiffer, Waltraud: Dazugehörig? Jüdisches Leben in Steyr von den Anfängen bis in die Gegenwart (Steyr, Verlag Ennsthaler 2021)

Fußnoten:

6 URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Ghetto_Krakau (aufgerufen am 12.9.2022)

7Österreichisches Staatsarchiv, Akten des Hilfsfonds, Akt AHF.29.064: Antrag von Marie Garde an den Hilfsfonds, 15.7.1957; Schreiben von Marie Garde an den Hilfsfonds, 18.5.1958; Ärztlicher Bericht, 3.7.1958; Schreiben von Marie Garde an den Hilfsfonds, 28.3.1960; Zahlungsanweisung des Hilfsfonds an Marie Garde, 1.12.1960; retour gesandter Brief des Hilfsfonds an Marie Garde, erhalten am 27.12.1965

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